Mirada und Cabeceo - zur Einladungskultur auf Milongas

Wer eine Milonga besucht, möchte tanzen. 

Nette Leute treffen, sich unterhalten, schöner Musik lauschen und anderen beim Tanzen zuschauen hat zwar auch seinen Charme, aber nur solange, wie es in einem ausgewogenen Verhältnis zum eigenen Tanzbedürfnis steht. 

Wer sich mit einem festen oder temporären Tanzpartner für eine Milonga verabredet, hat immerhin die Gewissheit, für die ersten Tandas (= Abfolge von 3 bis 4 Musikstücken), hin und wieder im Verlauf der Milonga und für die letzte Tanda des Abends mit einem Tanzpartner versorgt zu sein. 

Was aber tun, wenn man auch mal mit einem anderen, vielleicht gänzlich unbekannten Partner tanzen möchte? Und wie kommt man an einen Tanzpartner, wenn man alleine zur Milonga gekommen ist? Gibt es dafür irgendwelche Regeln oder Empfehlungen?

Ja, gibt es. Aber gestattet mir einen kleinen Umweg:

Fremdheit und Vertrautheit 

Es ist eine große Freude, dass unsere Milonga im Schloss fast schon von Beginn an Tangueras und Tangueros aus einem großen Umkreis anzieht, so dass wir selbst in unseren heimischen Kreisen immer wieder auf uns noch Unbekannte treffen, mit denen wir noch nie getanzt haben. Das ist ganz wunderbar und eine große Bereicherung unserer Milonga.

Doch was wäre unsere Milonga ohne die regelmäßigen Besucher aus der regionalen und angrenzenden Tangoszene? Sie sind es, die mit ihrer Treue unsere Milonga durch das Jahr tragen und dafür sorgen, dass sie lebendig ist, fortbesteht und dass Gäste von außerhalb sich wohlfühlen und gerne wiederkommen. Außerdem geben sie unserer Milonga ein beinah familiäres Gepräge: man kennt sich und freut sich aufeinander. 

Damit ist ein Spannungsfeld skizziert, das den besonderen Reiz einer jeden Milonga ausmacht und das den Hintergrund für das heutige Thema bildet: abenteuerliche Fremdheit auf der einen und sichere Vertrautheit auf der anderen Seite. 

Fremdheit weckt Neugier, kann verunsichern, lässt uns achtsamer sein, vielleicht sogar etwas nervös und vorsichtig.

Je vertrauter uns die Menschen sind, die uns umgeben, desto aufgehobener, sicherer, entspannter fühlen wir uns wohl in der Regel. Allzu große Vertrautheit kann aber auch zu Routine, Nachlässigkeit, Plumpheit, unausgesprochener Erwartungshaltung führen. Jedes langjährige Ehepaar kann vermutlich sein eigenes Lied darüber singen.

Auffordern oder einladen?

Diese Frage mag sophistisch wirken, ist aber nicht so gemeint. Für mich sind mit beiden Worten gänzlich verschiedene Stimmungen verbunden. Einladen / eingeladen werden fühlt sich freilassender und eben weniger (auf-)fordernd an.

Wer in seiner Jugend einen Standard-/Latein-Tanzkurs besuchte, wurde dort auch in das dazumal geltende Aufforderungs-Ritual eingeführt: ein Mann geht in Erwartung einer Zusage zu einer Frau, mit der er tanzen will, verbeugt sich, streckt womöglich seine Hand aus und sagt etwas wie „Darf ich bitten?“ und die so erwählte Tanzpartnerin hatte keine Möglichkeit, die Aufforderung zum Tanz abzulehnen, wenn sie dem Mann und sich selbst Peinlichkeiten ersparen wollte. Die Rollenverteilung war sehr klar geregelt: der Mann forderte aktiv auf und die Frau wartete passiv, bis sie aufgefordert wurde. Die Damenwahl war die ungewöhnliche Ausnahme von der Regel. 

Im Tango Argentino hat sich demgegenüber eine subtilere, beinahe spielerische Einladungskultur etabliert, die allerdings bezüglich der Aktivität / Passivität lange Zeit ebenso derselben klassischen Rollenverteilung folgte und vielerorts wohl auch heute noch folgt. Diese Einladungskultur lässt der Möglichkeit nach aber beide Seiten frei und erspart dem/der Einladenden die Schmach etwaiger Ablehnung sowie der/dem Eingeladenen die unangenehme Last, bei Unwillen eine Einladung vor aller Augen abzulehnen. Sie bestehet aus 2 Phasen: Mirada (Blick, Augenkontakt) und Cabeceo („Kabetheo“ = einladendes / bestätigendes Zunicken).

Vom Umgang mit „Körben“ 

Dass es sehr gute Gründe für die Pflege dieses Einladungsrituals gibt, wurde mir vor einigen Wochen wieder vor Augen geführt als in einem englischsprachigen Tangoforum auf Facebook die Frage gestellt wurde, ob man denn bereit wäre, mit jemandem zu tanzen, von dem man schon einmal „einen Korb bekommen“ hat. Mich überraschte, wie oft diese Frage mit „nein“ beantwortet wurde, aber noch überraschender fand ich eigentlich die Fragestellung an sich.

Es kann viele Gründe dafür geben, dass jemand eine Tanzeinladung ablehnt bzw. einer Tanzeinladung ausweicht: schmerzende Füße, Erholungsbedürfnis, Verabredung mit einer/m anderen, das schweißnasse Hemd des Gegenübers, ein empfindlicher Geruchsinn, Musik, die einen nicht zum Tanzen inspiriert oder der man sich nicht gewachsen fühlt und viele weitere. Das Gute ist, dass sich niemand rechtfertigen muss. Und selbst wenn sich eine Situation ergibt, in der jemand sich zu einer Rechtfertigung hinreißen lässt, wird es letztlich ein Geheimnis bleiben, wieviel Wahrheit sie enthält und wieviel ausweichende Rücksichtnahme den gewählten Worten innewohnt. 

Da man also niemals zuverlässig wissen kann, warum eine Einladung nicht angenommen wird, gibt es auch keinen Grund, daraus eine generelle Ablehnung abzuleiten. Und deshalb wüsste ich nicht, warum es zu anderer Gelegenheit nicht doch zu einer gemeinsamen Tanda kommen könnte.

Ein anderes Thema ist natürlich die empfundene Zurücksetzung, die mit einer sich im öffentlichen Raum ereignenden Ablehnung einhergehen kann. Niemand steht gerne bloßgestellt vor anderen da.

Und damit komme ich zu der Begründung, warum mich die Fragestellung an sich verwunderte. Denn traditionell vermeidet man - wie gesagt - im Tango Argentino die Möglichkeit, öffentlichkeitswirksam „einen Korb“ zu bekommen und das liegt eben an dem oben erwähnten, speziellen Einladungsritual von Mirada und Cabeceo.

Mirada 

Im Grunde ist es ganz einfach: wer tanzen möchte, lässt seinen Blick schweifen und gibt so anderen die Gelegenheit, den Blick zu erwidern.

Erst, wenn zwei potentielle Tanzpartner dem Augenkontakt nicht ausweichen, ihm also absichtsvoll Dauer verleihen, entsteht so etwas wie ein gemeinsamer Raum, in dem die Gelegenheit zum Cabeceo (siehe unten) überhaupt erst gegeben ist, einander also seine Tanzabsicht zu zeigen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Mirada die Möglichkeit bietet, durch Nicht-erwidern eines Blickes dem anderen erst gar keine Gelegenheit zu geben, mich zum Tanzen einzuladen, so dass mir wie dem Einladenden eine etwaige Ablehnung, der wohl nicht nur für empfindsame Gemüter selbst dann etwas leicht Kränkendes anhaften kann, wenn sie sich von den anderen unbemerkt ereignet, erspart bleibt. 

Es kommt natürlich oft vor, dass man nicht nur mit irgendjemandem, sondern mit einem bestimmten Partner tanzen möchte. In diesem Fall ist die Versuchung besonders groß - alleine schon, um konkurrierenden Partnern zuvor zu kommen -, die Distanz zum begehrten Tanzpartner zu verringern, sich womöglich gar vor ihm aufzubauen, um so den Blickkontakt quasi zu erzwingen. Dann fehlt eigentlich nur noch die Verbeugung und die ausgestreckte Hand und man ist im traditionellen Aufforderungsmodus angekommen - mit den oben skizzierten unerwünschten Folgen.

Missverständnisse und deren Folgen 

Blicke sind oft flüchtig, können aber auch interessiert, schüchtern, flehend, geheimnisvoll, flirtend, fixierend oder gar bohrend sein und fühlen sich dementsprechend unterschiedlich an. 

Ein Blickkontakt kann sich auf Entfernung ereignen, wenn Lichtverhältnisse und Sehvermögen dafür ausreichen. Manchmal ist es jedoch eine Melange aus schummrigem Licht und Myopie, die zu Missverständnissen führen kann. Dann interpretiere ich das Nicht-Zustandekommen eines Blickkontaktes unter Umständen als Desinteresse, während vom anderen mein Blick vielleicht einfach gar nicht wahrgenommen oder zumindest nicht als Tanzabsicht interpretiert wurde. 

Und schon wieder taucht die Versuchung auf, die Situation durch Verringerung der Distanz oder gar durch Nachfragen zu klären. Was aber, wenn meinem Blick doch absichtsvoll ausgewichen wurde?…

Es gibt kaum eine Patent-Lösung für solche Situationen. Sie wird wohl auch vom Grad der Vertrautheit zwischen den Beteiligten abhängen. 

Das gilt auch für Situationen, in denen sich die „falsche Person“ angesprochen gefühlt hat und - vielleicht sogar gleichzeitig mit der eigentlich gemeinten Person aufgestanden ist bzw. dass man selbst sich fälschlicherweise eingeladen gefühlt hat. In solchen Fällen rate ich a) den Humor zu bewahren und b) offen das Missverständnis zu kommunizieren und sich mit der ursprünglich nicht gemeinten Person ggf. für eine spätere Tanda zu verabreden. 

Übrigens: trafen sich die Blicke zweier Tanzwilliger und wurden sie beiderseits aufrechterhalten, interessiert es hinterher wohl keinen von beiden mehr, wer zuerst geguckt hat, wer also die Verbindung initiiert hat. Insofern ermöglicht die Mirada Führenden wie Folgenden gleichermaßen, den ersten Schritt zu tun, sprich: den Blick schweifen zu lassen oder auch auf jemanden zu richten.

Cabeceo 

Auch dem Cabeceo wohnt nichts Grobes oder Formales inne. Es ist mehr so ein beinahe unmerkliches Zunicken oder eine Art fragende Kopfbewegung und hat so rein gar nichts mit der Verbeugung oder dem „Diener“ alter Zeiten zu tun. 

Es gibt Grandseigneure des Tango, von denen man sich erzählt, dass sie gänzlich auf das Zunicken verzichteten, weil deren Blick und Minenspiel nichts an Eindeutigkeit vermissen ließ. Das zeigt, dass der Cabeceo keine Bedeutung als einzuhaltende Form hat, sondern nur der Einladung dient, für die es auch andere subtile Mittel gibt. 

Vom Zauber des Anfangs

„… Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. …“                                                                              aus „Stufen“ , Hermann Hesse

In dem deutschen Spielfilm „Shoppen“ aus dem Jahr 2006 kann man neun Frauen und neun Männern dabei zuschauen, wie sie sich in einer weitgehend leeren Halle auf für den Zuschauer höchst unterhaltsame Weise per Speed-Dating in Beziehungsanbahnung bzw. Beziehungsvermeidung versuchen. In einer Szene lässt der Film eine Frau zu dem ihr gegenüber sitzenden Mann sinngemäß sagen: „Stell dir mal vor, du findest hier bei diesem sterilen Sch…spiel deinen Partner fürs Leben und dann musst du später deinen Kindern erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt.“ Und er antwortet: „Du meinst, wir hätten schon allein deshalb keine Chance, weil wir uns auf diese Weise kennengelernt haben?“ - „Ja, genau. Irgendwie ist der Lack ab.“

Diese Szene kam mir in den Sinn als ich nach einem Bild suchte, mit dem ich anschaulich machen kann, warum es für mich persönlich einen Unterschied macht, auf welche Weise die Tanzpartner zueinander finden. Damit will ich nicht entscheiden, ob der anschließende Tanz nicht auch dann schön sein kann, wenn das Zustandekommen weniger geheimnisvoll oder gar plump vonstatten ging. Ich verstehe auch, dass manch einer einfach nur tanzen will und keine Lust auf den vermeintlichen Zauber argentinischer Anbahnungsrituale hat. 

Ich möchte lediglich die Idee ins Spiel bringen, es wie eine ausgelassene Chance zu betrachten, wenn man darauf verzichtet, den gemeinsamen Tanz bereits in der Sphäre tastender Blicke beginnen zu lassen bevor man ihn anschließend in inniger Umarmung fortsetzt.

Wer sich auf den hiesigen Milongas umschaut, wird feststellen, dass es durchaus nicht immer derart subtil zugeht wie oben beschrieben. Das kann verschiedene Gründe haben: Unwissenheit, Unverständnis oder - wie bereits erwähnt - auch einfach eine Abneigung gegen dieses spielerische Ritual, das ein wenig Geduld, Aufmerksamkeit und eben Subtilität erfordert. Die wachsende Vertrautheit innerhalb der eigenen Tangoszene scheint überdies ein Milieu zu begünstigen, in dem die Hemmschwelle, jemanden direkt oder gar plump auf die altbekannte Art aufzufordern, sinkt.

Bereitschaft signalisieren 

Wer also tanzen will, signalisiert dies dadurch, dass er seinen Blick schweifen lässt oder auch in Richtung eines Wunschpartners lenkt, um Augenkontakt herzustellen. Was so einfach klingt, birgt doch einige Feinheiten, die man beachten sollte. Auch durch unsere Körperhaltung teilen wir Tanzbereitschaft oder das Gegenteil mit. Permanent angestiert zu werden, fühlt sich eher fordernd als einladend an. Wenn ein potentieller Tanzpartner nicht zurückschaut oder den Blick gleich wieder abwendet, möchte er offensichtlich j e t z t nicht mit mir tanzen. 

Ein Sonderfall ist sicherlich, wenn man eh schon nebeneinander sitzt und sich unterhält. Wenn dann Musik erklingt, zu der man gerne mit dem Gesprächspartner tanzen würde, kann man das je nach Situation natürlich auch ansprechen. Man muss dann halt ggf. aushalten, wenn das Gegenüber „nein“ sagt … Umgekehrt gibt es kein „Vorrecht“ des Gesprächspartners. Es kann sich jederzeit ein Blickkontakt mit einem anderen ergeben, so dass das Gespräch abrupt ein Ende findet. Und das ist auch völlig in Ordnung, denn schließlich sind alle zur Milonga gekommen, um Tango zu tanzen. 

Von Zeit zu Zeit besuchen Paare unsere Milonga, die bislang ausschließlich miteinander tanzen und es auch nicht anders wollen. Sie werden ihre Gründe haben, über die ich hier nicht spekulieren will. Es spricht ja auch nichts dagegen solange es nur Wenige sind, die unter sich bleiben wollen. Dank der vielen anderen, die sich beim Tanzen munter durchmischen, verkraftet unsere Milonga das. Wenn man sich mal einen Moment vorstellt, wie es wäre, wenn alle immer nur mit ein und demselben Partner tanzen müssten …

Códigos 

Códigos sind so etwas wie Gepflogenheiten und Regeln, von denen es im Tango Argentino eine ganze Reihe gibt. Von denen werde ich vielleicht in einer künftigen Ausgabe meiner Tango-Gedanken berichten. Hier will ich nur diejenigen kurz erwähnen, die einen Bezug zum heutigen Thema haben.

So gehört die erste wie auch die letzte Tanda dem Partner, mit dem man zur Milonga gekommen ist. 

Mit Rücksicht auf den/die eigene Begleiter/in gelten maximal 2 Tandas mit ein und demselben anderen Tanzpartner als angemessen. Mit dem „eigenen“ Partner kann man natürlich so oft tanzen, wie man will. Vorausgesetzt, der will das auch. 

Es gilt als grob unhöflich, einen Tanz vor Beendigung der Tanda einfach abzubrechen - es sei denn aus wirklich wichtigem Grund (Notfall, unangemessenes / übergriffiges Verhalten des Tanzpartners). Niemand wird gerne auf der Tanzfläche stehengelassen. 

Auch, jemanden erst zum letzten Stück einer Tanda einzuladen, wirkt eher unhöflich. Wenn es versehentlich doch einmal passiert, besteht die Möglichkeit, es durch das Angebot, auch die folgende Tanda miteinander zu tanzen, wiedergutzumachen. 

.................................................

Wie gesagt: unvollkommen. Vieles wurde nur angerissen. Dennoch soll es das für heute gewesen sein, diesen geheimnisvollen Vorgang etwas zu beleuchten.

Ilshofen, 03.01.2024 / Lars Rinas

Kommentare

Beliebte Posts